von Mario Perrotta

Das Projekt

2013 - 2015

Der Künstler und die Schauplätze
Die Schauspiele
Weitere Tätigkeiten

Das Projekt gestaltet sich in drei Stufen und dreht sich um die Figur von Antonio Ligabue und sein Verhältnis zu den Schauplätzen, die seine Existenz und künstlerische Schöpfung prägten: die Schweiz, wo er geboren wurde und bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr lebte; das Gebiet von Gualtieri (RE), am Fluss Po, und dessen Ufer zwischen den Provinzen Reggio Emilia und Mantua, wo er den Großteil seiner Bilder und Skulpturen hervorbrachte.

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Der Platz von Gualtieri beeindruckte mich durch seine rationalen Linien, und weil er zu Ende des 16. Jahrhunderts von einem bekannten Architekten am Hof der Estenser so entworfen wurde, dass jede Ecke, jede Linie der Gebäude und jeder vom Turm geworfene Schatten eine Art städtischer Kosmogonie widerspiegelt. Doch damit nicht genug.

Der Platz von Gualtieri beeindruckte mich, weil sein Übermaß an architektonischem Rationalismus im 20. Jahrhundert durch die Gegenwart Antonio Ligabues verletzt und zerbrochen wird, dessen „Irrationalität“ die Grundlage seiner gesamten Kunst darstellt. Ligabue entstellte die Vollkommenheit dieses Ortes durch seine bloße Anwesenheit, durch seine Rolle als Dorfnarr, durch seine offensichtliche Unvollkommenheit, durch sein geschwollenes Gesicht, das er mit Steinen selbst verwundet hatte, und durch seine herzzerreißenden Schreie voller Wut und Leid wegen einer falschen Beurteilung eines seiner Bilder.

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Der Platz von Gualtieri und Gualtieri an sich beeindruckten mich, weil sie in Ligabues vielen Bildern mit städtischem Hintergrund sehr selten vorkommen, denn er, Toni - wie ihn die Dorfbewohner nannten - malte in seinen Bildern immer eine schweizerische Landschaft, die mythische Landschaft einer verlorenen Kindheit und Seligkeit.

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Doch es gibt in der Gegend von Gualtieri einen Ort, der begreifen lässt, warum Toni, der aus der Schweiz nach Italien ausgewiesen worden war, sich darin fügte, dort zu leben und zu bleiben bis zu seinem Tod: Der Fluss Po und seine Auen im Gebiet von Reggio und Mantua waren der Grund. Hier konnte sich Ligabue vom Zivilleben „abschotten“, sich an den Rand stellen, um zu seiner innerlichen Welt zurückzufinden und sich wieder mit einer Natur zu vereinen, die wild genug war, um zum möglichen Hintergrund seiner jagenden Raubkatzen zu werden.

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Da ist er, mein Ligabue, nicht in der Dorfmitte, sondern stets am Rande, entlang den Dämmen, an der natürlichen Grenze des Po, die Ligabue bei seinem wilden Umherirren immer wieder brach. Da ist er, auf dem endlosen Land der Poebene, wo die Härte des Daseins und die Naturgesetze eine Gewalt entfalteten, die seine malerische Vorstellungskraft nährte.
Da ist er, vom Hochwasser zurück auf den Platz ausgespuckt und dann wieder in die Vegetation hinein gesogen während einer Trockenzeit.
Da ist er, wie er zur Mutter Natur wird, den Flusslehm kauend, um tönerne Körper und Gesichter zu formen. Da ist er, wie er schweizerische Dächer und Landhäuser unter die Farne des Po mischt und, mittendrin, sein Antlitz, seine schrägen Augen, die das Treffen mit unserem Blick verfehlen, indem sie über uns hinwegsehen.

Aus diesen Gedanken und Eindrücken ist das starke Bedürfnis entstanden, diesen Konflikt zwischen dem "Schweizer" Antonio Ligabue, seiner inneren Landschaft und dem Dorf Gualtieri am Po-Ufer zu erzählen. Daraus folgt die Notwendigkeit, meine Aufmerksamkeit wieder einmal auf die Ausgrenzung zu richten (nachdem ich sie im Projekt über die italienische Auswanderung gründlich erkundet habe), den schöpferischen Wahnsinn zu erforschen, der die Perspektive über die Dinge ändert, mich nochmals auf den Begriff „Grenze“ und seine Implikationen zu konzentrieren, den Fluss Po als Grenze und Ligabue zu benutzen, um diese Grenze zu durchbrechen.

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Ligabue zu erforschen bedeutet, das Verhältnis einer Gemeinde zum von allen gefürchteten und an den Rand gedrängten „Dorfnarren“ zu erforschen, aber auch den Wechsel des Blickwinkels zuzulassen, der eine neue Anschauung der Dinge verursacht, eine „wahnsinnige“ Anschauung, die das innere Gleichgewicht des Beobachters gefährdet, indem sie ihn dazu zwingt, sich die klassische Frage zu stellen: Wer ist der Irre?

Schließlich, und jenseits jeder rationalen Überlegung, fühle ich mich dazu „gezwungen“, meinem sehr persönlichen, quasi angestammten Interesse für Antonio Ligabue als Tier nachzugehen, für das Tierische und Reine, wonach er in seinem Werk so zäh suchte, um es uns mit unübertroffener Heftigkeit wiederzugeben.

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